Joachim
Dönitz

Richter a.D.

Joachim Dönitz

Richter a.D.

Joachim Dönitz war Präsident des Landgerichts Cottbus und leitete als Vorsitzender Richter das Verfahren.

Wie war Ihr Weg bis zum Cottbuser Landgericht?

Ich bin in Sorau geboren. Das ist heute in Polen, damals war es Niederschlesien. Meine Familie stammt aus Schlesien und Sachsen. Nach dem Krieg bin ich in Krefeld großgeworden. Ich gehörte dann zu den sogenannten 68ern; habe zusammen mit meiner Frau, die auch Jura studierte, in Heidelberg die Wasserwerfer hautnah erlebt. Wir gehörten zu denen, die demonstrierten und stolz darauf waren, die saturierte Gesellschaft zu provozieren. Dass die Bundesrepublik langsam zu einem Rechtsstaat gewachsen ist, ist nach meiner Überzeugung auch den 68ern zu verdanken. Dieser Rechtsstaat ist immer wieder eine innere Triebfeder auch für meine berufliche Tätigkeit. Ich bin dann in Krefeld Richter gewesen, ein sehr engagierter und überzeugter Richter.

Kurz nach der Wiedervereinigung habe ich zu meinem Präsidenten gesagt, dass ich gern nach Ostdeutschland gehen würde, um beim Zusammenwachsen der Justiz zu helfen. Ich habe mir damals vermutlich etwas naiv vorgestellt, dass ein Richter aus Krefeld nach Frankfurt/Oder oder nach Cottbus geht und einer aus Frankfurt/Oder oder Cottbus nach Krefeld kommt. Nach ein oder zwei, drei Jahren hat man die andere Seite dann ein Stück weit kennengelernt und kann besser zusammenwachsen. Aus dieser Idee ist eine lange Tätigkeit geworden. Meine Familie ist in Krefeld geblieben, meine Kinder haben hier ihr Abitur gemacht und studiert. Es war die Aufbruchstimmung, die Freude über die Wiedervereinigung, die mich damals getrieben hat. Und wir, die wir damals 'rüber' gegangen sind, waren auch eine Aufbruchgeneration. Im Übrigen waren das mehr Leute meines Alters als jüngere. Möglicherweise hat das mit den Biografien zu tun. Meine Kinder fragten jedenfalls, was ich im Ausland will. Aber für mich war die DDR kein Ausland. Das ist natürlich ein Unterschied. Dann war ich zunächst viele Jahre in Frankfurt/Oder und ab 1996 dann in Cottbus.

Wie haben Sie die Situation neben dieser Aufbruchstimmung wahrgenommen? Es gab in den ersten Jahren ja auch die Angriffe auf die Asylbewerberheime zum Beispiel in Hoyerswerda oder in Rostock, es gab viel rechte und rassistische Gewalt und es gab viel Zustimmung zu dieser Gewalt.

Das habe ich natürlich wahrgenommen und ich habe zwei sehr verschiedene Deutschlands erlebt. Ich habe im Laufe meiner Zeit in der ehemaligen DDR sehr intensiv kennengelernt, dass ich in Westdeutschland in einer sehr privilegierten Position aufgewachsen bin. Die Bundesrepublik war frei, wir konnten alles Mögliche tun, wir hatten einen Rechtsstaat, wir hatten Pressefreiheit, persönliche Freiheit, Versammlungsfreiheit. Die Menschen in der DDR hatten ebenfalls das Dritte Reich hinter sich, aber danach nicht die Chance, sich in Freiheit zu entfalten. Ich habe daraus auch gelernt, und das hat meine Position im Guben-Verfahren mitbestimmt, dass die Bürger der DDR anders aufgewachsen sind als die Bürger der BRD. Daraus resultierend konnten sie möglicherweise gar nicht anders sein als - 'fremdenfeindlich' zu sagen, ist hier unter Umständen nicht richtig, besser wäre vielleicht 'fremdenängstlich'. Wir wuchsen irgendwann selbstverständlich mit Ausländern auf. Auch die DDR hatte Ausländer, aber die wurden kaserniert, abgeschottet und nur einige Jahre geduldet. Das heißt, die Menschen in der DDR haben nicht gelernt, tolerant zu sein. Für uns war das ganz normal; wir mussten uns also auch nicht bemühen, tolerant zu sein.

Die Jugendlichen, die in dem Guben-Verfahren angeklagt waren, sind mit Fremdenfeindlichkeit oder Fremdenängstlichkeit am Küchentisch aufgewachsen. Das war ihre Normalität. Das Gravierende ist ja, dass die ostdeutsche Bevölkerung keine Chance hatte, in Freiheit aufzuwachsen, Freiheit als selbstverständlich zu empfinden und sich zum Beispiel gegen hoheitliche Übergriffe zu wehren. Wenn da von der Partei eine Richtlinie kam, wurde die selbstverständlich befolgt. Hier wurde sie dagegen fast ebenso selbstverständlich in Frage gestellt. Diese Freiheit haben die DDR-Bürger nicht gehabt. Und das darf man ihnen nicht verübeln. Etwas Persönliches: Ich habe einen sehr autoritären Vater gehabt. Meine beiden Kinder sind ganz anders aufgewachsen, mit absoluter Toleranz. Die fragen mich heute noch, wieso ich mir das alles gefallen gelassen und mich nicht gewehrt habe. Aber es funktioniert nicht, das jemandem so zu sagen, der autoritär aufgewachsen ist.

Aber auch wenn es diese Hintergründe gibt, gibt es keinen Automatismus in den daraus folgenden Handlungen, also dass man zum Beispiel gewalttätig gegen Ausländer sein muss. Deshalb haben wir in den 1990er Jahren auch gegen diese Erklärungsmuster argumentiert. Denn man kann sich mit diesen Mechanismen und Denkweisen auseinandersetzen und man kann sich dagegen entscheiden. Ich bin auch in der DDR groß geworden, aber ich bin keine rechte Ausländerhasserin geworden.

Natürlich gibt es keinen Automatismus. Selbstverständlich gibt es auch ehemalige DDR-Bürger, die nicht rechtsradikal geworden sind. Unter Hitler ist Deutschland der Intelligenz beraubt worden, einschließlich der Juden. Dann hat es in der DDR die Abkapselung gegeben mit der Folge, dass die Besseren gegangen sind. Was zurück geblieben ist, ist immer mehr Spießigkeit gewesen. Und wenn in dieser spießigen Umgebung dann das Nationalbewusstsein dazu kommt, dann habe ich den Ausländerhass schon beinahe selbstverständlich. In dieser Situation sind die Jugendlichen, die ich in dem Verfahren zu Guben hatte, aufgewachsen. Da ist es dann meine Aufgabe als Richter, jetzt nicht als Mensch oder als Bürger, sondern als Richter, die persönliche Schuld herauszufinden. Was hat dieser einzelne X, dieser einzelne Y an persönlicher Schuld auf sich geladen und wie habe ich das zu sanktionieren? Im Fall von Guben war ja auch noch Jugendstrafe zu berücksichtigen.

Was hat aus ihrer Sicht bei der Tat als Motiv eine Rolle gespielt?

Ich denke, dass bei der Gruppe von Guben-Tätern das Gruppenbewusstsein eine größere Bedeutung hatte als das Rechts-Bewusstsein. In der Situation und in dieser Nacht. Natürlich haben die auch 'Ausländer raus!' gebrüllt. Aber das war die ganze Gruppe. Die waren mit einer Haltung von 'Wir sind Deutsche. Wir verteidigen nur unser Deutschland' unterwegs. Dazu kam, dass es etwas Normales war, Ausländer nicht zu mögen, Ausländer zu jagen, nachts durch die Stadt zu ziehen und 'Ausländer raus' zu brüllen. Und dann gab es noch das Gerücht, dass einer der ihren niedergestochen worden war. Dann haben sie sich da hochgepeitscht. Da entsteht eine Gruppendynamik mit jemandem wie Alexander Bode, der die Führung übernommen hat. Und da ist für ein Gericht dann die Frage nach der Schuld des Einzelnen.

Wann und wie haben Sie denn von der Tat erfahren?

Das weiß ich leider nicht mehr. Wahrscheinlich war es aber aus der Presse.

Und wann wussten Sie, dass Sie den Vorsitz in dem Verfahren haben werden?

Das ist ein Stück weit Rechtsstaatlichkeit: Welcher Richter zuständig ist, entscheidet sich zufällig. Grundsätzlich ist es so, dass an einem Gericht vielleicht zehn Richter tätig sind; fünf machen Strafrecht, fünf Zivilrecht. Am Anfang des Geschäftsjahres wird festgelegt, dass Richter A alle Strafsachen von A bis K macht, Richter B dann die von L und so weiter. Leichte Strafsachen kommen zu einem Einzelrichter, mittlere vor ein Schöffengericht. Das sind ein Berufsrichter und zwei Schöffen. Schwere Kriminalität kommt zum Landgericht, an dem es mehrere Kammern gibt. Wenn man ehrlich ist, muss man sagen, dass das beeinflusst werden kann. Wenn man weiß, dass im folgenden Jahr ein großes Verfahren kommt, und man den Geschäftsverteilungsplan macht, dann hat man natürlich die Möglichkeit zu sagen, dass die Strafkammer, die den Buchstaben S hat, zu Richter A gehört. Insofern ist es zufällig, aber nicht 100 Prozent lupenrein. Bei Guben erinnere ich mich nicht; es muss Zufall gewesen sein.

Ja, dann war es wirklich völliger Zufall. Der Prozess begann vier Monate nach der Tat noch im selben Jahr. Es gab elf Angeklagte und 23 Verteidiger, am Ende waren es 88 Prozesstage. War Ihnen bereits zu Beginn klar, dass es einen solchen Umfang annehmen wird?

Dass es ein großes Verfahren mit mindestens 20 oder 30 Verhandlungstagen wird, war absehbar. Dass es über 80 wurden, nicht. Ich will etwas zu dem Vorwurf sagen, dass das Gericht und ich in meiner Person als Vorsitzender das Verfahren zu schleppend bearbeitet hätten. Natürlich spielen die Person und die Mentalität eines Vorsitzenden eine Rolle. Es gibt Vorsitzende, die handeln alles streng nacheinander ab, und es gibt welche, die mehr Freiraum lassen. Das ist ein bisschen auch die Frage der Persönlichkeit. Ich lasse eher Fragen zu und versuche zu delegieren, als sofort abzublocken.

Ganz wichtig ist auch die Frage der Beteiligung der Schöffen. An so einer Strafkammer sind immer Laienrichter beteiligt. Viele meiner Kollegen betrachten diese nur als notwendiges Beiwerk. Sehr viele Schöffen sind inaktiv. Aber ich habe in meinen Verfahren immer versucht, sie aktiv am Verfahren teilnehmen zu lassen. Sie sollten sich mit ihren Fragen nicht nur in der Beratung, sondern auch in der Hauptverhandlung einbringen. Ich wollte ihre Meinung haben. Wenn man von dieser Statur ist, dann dauert ein Verfahren automatisch länger. Ein Richter, der die Sache eher stramm durchzieht, kommt in der Öffentlichkeit besser an. So vorzugehen hat Vor-, aber eben auch Nachteile. Möglicherweise werden Dinge nicht berücksichtigt, die der Vorsitzende Richter nicht im Blick hat.

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