Friedrich
Burschel

Prozessbeobachter

Friedrich Burschel

Prozessbeobachter

Friedrich Burschel ist Journalist, begleitete das Verfahren als Mitglied der Prozessbeobachtungsgruppe und schrieb für das Buch Nur ein Toter mehr... unter anderem über die Verteidiger und das Urteil.

Wann und wie hast Du vom Tod Farid Guendouls erfahren?

Ehrlich gesagt, erinnere ich mich nicht genau daran. Aber vermutlich war es so, wie es damals überhaupt ging: Es kam über Mailinglisten. Es ging dabei auch um eine Mobilisierung zu einer Demo. Vielleicht habe ich vom Tod aber auch im Radio gehört.

Bist Du zu der Demo am Tag nach der Tat gefahren?

Nein. Ich meine, derartige Nachrichten gab es öfter und man hatte sich auch ein bisschen daran gewöhnt. Das Entsetzen hatte keine Nachhaltigkeit. Man hat gesagt: "Wow, schon wieder. Das darf doch nicht wahr sein." Aber dann war man schon wieder bei etwas anderem. Insofern ist es typisch, dass ich nicht sofort das Bedürfnis hatte, dahin zu fahren. Es war dann die einige Wochen später beginnende Zusammenarbeit mit der Anlaufstelle für Opfer rechtsextremer Gewalt in Südbrandenburg und der Antifa Guben, durch die ich in diese Thematik eingestiegen bin. Es war die Zeit, in der wir bei der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration, für die ich damals tätig war, uns gefragt haben, inwieweit unsere Arbeit zu dem Grenzraum und der damaligen EU-Außengrenze auch etwas mit dem Wirken der Nazis dort zu tun hat. Das haben wir lautstark bejaht, also dass, wenn wir zu Rassismus, Grenzpolitik und dem Agieren der Bevölkerung gegenüber heimlich Einreisenden arbeiten, da selbstverständlich das Wirken von Nazis einbezogen werden muss. Unsere Arbeit bezog sich dann schnell auf Guben selbst: Wir haben die Stadt erkundet. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, in einer Stadtverordnetenversammlung gewesen zu sein, weil wir wissen wollten, was da zu der Hetzjagd gesagt werden wird. Ich höre heute noch die Worte von dem SPD-Abgeordneten Quiel: "Ja, wenn wir hier die ganze Zeit über Rechtsextremismus reden, dann müssen wir auch über die Linksextremisten reden."

Erinnerst Du Dich, wie Du die Situation in der Stadt nach dem Tod Farid Guendouls wahrgenommen hast?

Das gehört noch in jene Zeit, in der ich mit Ostdeutschland eigentlich überhaupt nichts zu tun hatte. Im Zusammenhang mit Guben hatte ich zum ersten Mal mit Leuten von dort intensiver zu tun. Natürlich gab es die Forschungsprojekte der FFM entlang der Grenze, dabei habe ich diese Landstriche kennengelernt. Aber mit Ostdeutschland hatte ich weder Berührungspunkte noch etwas am Hut. Und dann lernte ich ostdeutsche junge Leute kennen, die gar nicht meinen Bildern entsprachen und mit denen ich schnell eine sehr vertrauensvolle Beziehung aufgebaut habe.

Einige Wochen nach der Tat gab es noch einmal eine Demo, bei der wir unter anderem durch das Plattenbauviertel gelaufen sind. Das war ein ausgesprochen bizarres Erlebnis: In einer Gruppe durch Teile der Stadt zu laufen und zu merken, mit den Leuten, die einen da mit befremdeten, mit verärgerten, wenn nicht hasserfüllten Blicken anschauen, würde man nichts zu tun haben, will man vielleicht auch nicht. Weil man keine gemeinsame Sprache spricht. Das war für uns bestimmt ein anderes Empfinden als für die Gubener, besonders für diese wenigen alternativen Jugendlichen da. Die damals ja auch gemerkt haben, dass sie einer relativ geschlossenen Gemeinschaft gegenüber stehen, die sich über uns mokiert und nicht über die Tat. Und ich fand es großartig, die Antifa Guben kennenzulernen, also diese Gruppe von Leuten, die da irgendwie versuchte, sich einen eigenen Raum zu schaffen, bei denen es immer auch lustig war und wo viel Bier getrunken wurde. Was ich damals erst so richtig zu schätzen gelernt habe, war, dass da ein humanistisches Mindestmaß an Militanz vorhanden war, also eine gewisse Bereitschaft, Standpunkte oder auch Terrains gegen die expandierenden und um sich greifenden Nazis mit wirklich allen möglichen Mitteln zu verteidigen. Also nicht nur mit Öffentlichkeitsarbeit und solchen Sachen.

Du hast dann auch Prozessbeobachtung gemacht. Kannst Du sagen, was Dir von dem Verfahren vor dem Cottbuser Landgericht in Erinnerung geblieben ist?

Ich erinnere mich als erstes daran, über weite Strecken das Gefühl gehabt zu haben, mit dem Rücken gegen die Wand zu stehen. Diejenigen im Publikumsbereich, die eine kritische Sichtweise pflegten, waren in der Minderzahl. Ich erinnere mich an diese Überzahl von Eltern von den Angeklagten, die da saßen und sich breit gemacht haben mit ihrer Haltung: "Ja, es ist halt scheiße gelaufen, aber unser Junge ist doch ein guter Junge." Dann gab es natürlich die Angeklagten selbst, die irgendwann angefangen haben, uns deutlich wahrzunehmen und auf uns zu reagieren, die uns gegenüber auch eine Lässigkeit zelebrierten. Es gab Versuche, jenseits des Gerichtssaales herauszukriegen, was das für Leute sind, was man noch an Hinweisen finden kann, in wieweit sie in der Szene verstrickt waren. Wir haben natürlich auch geguckt, was die Verteidiger eigentlich noch so machen. Dann entstand irgendwann ja dieses Panorama mit der Bühne, die in den Gerichtssaal gebaut wurde, so dass auf der linken Seite die 11 Angeklagten mit ihren 22 Verteidigern saßen, ein Bollwerk, dessen Fortsetzung der Sitzbereich der Verwandtschaft und der Freunde der Angeklagten wurde. Das ergab dieses Ungleichgewicht im Saal, der schwer nach rechts hing. Wir saßen auf der anderen Seite mit diesen wunderbaren Nebenklageanwältinnen. Das war schon schräg. Ich erinnere mich auch noch an die Gesten von Dönitz, wie er auf die Opferzeugen Khaled B. und Issaka K. zugegangen ist, sie mit Handschlag begrüßte und fragte, wie sie sich fühlen. Das war dann auch der Moment, wo ich mir gesagt habe, der ist schon okay, der Mann. Auch wenn ich mich über seine politischen Statements und Erörterungen wahnsinnig aufgeregt habe, vor allem über die Ehrenerklärung für Wolfram Nahrath in der Urteilsbegründung. Klar, Nahrath hat sich im Gerichtssaal wirklich nicht besonders negativ aufgeführt. Aber vor dem Hintergrund seiner Geschichte und der seiner Familie, die ja auch noch aus Guben stammt, mit seinen Reden auf Naziveranstaltungen, auf NPD-Veranstaltungen und so weiter war diese Ehrenerklärung völlig fehl am Platz und als politisches Signal ziemlich verheerend.

Natürlich sind mir auch die Anreisen aus Berlin in Erinnerung geblieben, dieses Cottbus, die Mittagspausen, das Herumlaufen in der Stadt und sich da immer mehr auszukennen. Für mich, der ja da und in Guben neu war, war es spannend, all diese Orte kennenzulernen, diese Ambivalenz der städtischen Räume in Ostdeutschland, diese Umbruchstädte, die sich seit 10 Jahren neu sortierten, etwas, das ihnen teilweise nicht besonders gut gelungen ist, wie wir heute noch beobachten können. Das gehört alles mit dazu.

Keine Relevanz dagegen hatte zu der Zeit Westdeutschland für uns. Das ist eine Erkenntnis, die mir erst sehr spät gekommen ist. Dass diese Fokussierung auf Ostdeutschland natürlich auch eine strategische PR-Entscheidung von Medien und politisch Verantwortlichen war, einfach zu sagen: Die DDR war so scheiße, dass wir jetzt hier so ein Riesenproblem am Start haben. Heute weiß ich, dass die Wahrscheinlichkeitsverteilung rechter Angriffe, Brandanschläge auf Asylunterkünfte in Deutschland sehr sehr gleichmäßig ist. Damals aber hatte sich definitiv "Ostdeutschland ist Naziland" als Sichtweise durchgesetzt: no go areas, national befreite Zonen und so weiter, all diese Begriffe tauchten auf. Westdeutschland kam in dieser Erzählung nicht vor. Das ist wichtig, zu wissen. Insofern war für mich diese Bewegung in diesem unbekannten Ostdeutschland wichtig, um genau diese Sichtweise kennenzulernen, nachzuprüfen und im Nachgang dann eben auch in Frage zu stellen.

Die Staatsanwaltschaft kommt in meiner Erinnerung dagegen gar nicht vor. Ich meine, was haben die überhaupt für eine Linie gefahren?

Sie hat gesagt, dass es keine rechte beziehungsweise rassistische Gewalttat wäre. Das haben sie schon vor Prozessbeginn getan und dann als Position durchgezogen.

Stimmt. Aber den Gerichtssaal, den habe ich so vor Augen, den könnte ich aufmalen. Also auch diese Barriere mit dieser Holzschranke durch die man ging, wenn man Prozessbeteiligter war. Ich sehe noch Alexander Bode vor mir, am Anfang, mit gegelten, nach hinten gekämmten Haaren und in einem weißen Hemd. Er wirkte auf mich im Vergleich zu den anderen Angeklagten gar nicht so stark nazimäßig. Aber erst im Laufe des Prozesses haben die alle ja erst ihre Vorsicht fahren lassen und wieder viel eindeutiger präsentiert. Am Anfang dachten sie: "Oh Scheiße, jetzt haben sie uns am Arsch." Aber dann haben sie gemerkt: "Ok, hier im Gerichtssaal ist noch nicht entschieden, wer die Oberhand behält." Letztlich interpretierte ja auch erst der BGH das Tatgeschehen so, dass alle, die auf der Anklagebank saßen, mehr oder weniger stark als Mittäter zu beurteilen sind.

Mit dem Urteil von Joachim Dönitz war ich unzufrieden. Das lag aber zum Teil auch an meinem Unwissen im Zusammenhang mit Jugendstrafrecht und daran, dass die Länge des Prozesses mehr oder weniger verhindert hat, dass die Täter zu höheren Strafen verurteilt wurden. Damals dachte ich vor allem; es könne nicht wahr sein, dass da jemand zu Tode kommt und der als Haupttäter festgestellte Angeklagte kriegt zwei Jahre und die anderen Bewährungen und Sozialarbeit. Diese Empörung, die würde ich heute vielleicht nicht mehr in der Weise empfinden, weil ich mehr Erfahrungen mit Gerichtsverfahren habe und ein Gericht nicht mehr so scharf verurteilen würde. Aber ich war auch mit dem Tenor unzufrieden, mit der Art und Weise, wie das Geschehen präsentiert wurde und zu welchen Schlussfolgerungen das Gericht gekommen war. Dieses juristische Denken ist natürlich ein anderes Denken, für das man ein Verständnis aufbringen muss. Die sind in einer Art Parallelwelt und wir sind das auch. Um es mit Luhmann zu sagen: in einer Sinnprovinz. Jeder sitzt in seiner Sinnprovinz und versucht über seine Grenzen zu schauen und fragt sich, was die anderen da für ein absurdes Zeug machen. Wie man diese Sinnprovinzen sinnvoll auflöst und zueinander führt, das ist das große Rätsel der gesellschaftlichen Kommunikation.

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