Vom 17. bis 23. September 1991 griff ein Mob aus Neonazis mit der Unterstützung von Bürger/innen ein Heim für Asylbewerber/innen und die Unterkünfte sogenannter Vertragsarbeiter/innen an. Die Polizei war weder willens noch in der Lage, sich gegen die Angreifer durchzusetzen und die Belagerungen und Angriffe zu unterbinden. In der Nacht vom 22. zum 23. September begann die zwangsweise Räumung beider Häuser. Nahezu alle Vertragsarbeiter/innen aus Mosambique wurden nach Frankfurt am Main gebracht und abgeschoben, die Asylbewerber/innen in andere Heimen in die Umgebung von Dresden geschafft. 40 von ihnen konnten nach Berlin fliehen. Diesem rassistischen Pogrom folgten zahlreiche weiterer Übergriffe in ost- und in westdeutschen Städten. Ich sprach mit Mathias und Marius* von der Initiative pogrom 91 über den Umgang mit den Ereignissen und die Erinnerung an die Opfer in Hoyerswerda. (* Namen geändert)
Könntet ihr eure Initiative kurz vorstellen?
MATHIAS: Die Initiative pogrom 91 besteht seit dem 20. Jahrestag der rassistischen Ausschreitungen in Hoyerswerda, also seit 2011. Wir sind größtenteils alle selbst aus Hoyerswerda und bekamen in unserer Jugend viel Stress mit Nazis. Dadurch fingen wir an, uns mit Politik zu beschäftigen. Wir hatten immer auch gehört, dass 1991 irgendetwas gewesen war, genaueres wusste oder sagte uns aber niemand. Wir begannen also selbst, uns mit den Ereignissen auseinanderzusetzen, zum Beispiel eine Chronik zu erarbeiten und online zu veröffentlichen. Auf der Internetseite der Stadt gab es damals nicht einen Satz dazu. Zum 15. Jahrestag organisierten wir außerdem eine erste Demonstration mit einem Antifaschwerpunkt. Danach war einige Zeit Ruhe, zum 20. Jahrestag fanden wir uns als Initiative wieder zusammen und seitdem arbeiten wir kontinuierlich an dem Thema. Wir machten zum 20. und zum 21. Jahrestag Demonstrationen, bei denen 500 Leute waren und über die überregional berichtet wurde. Das hat dann eine große Diskussion in Hoyerswerda ausgelöst.
MARIUS: Zuerst stand für uns das Dokumentarische im Vordergrund. Wir hatten ja erst einmal überhaupt keinen Bezug. Wir waren dann überrascht von der großen Resonanz, die uns zum 20. Jahrestag entgegenschlug. Dazu kamen aber auch wiederholte Angriffe und das hat uns veranlasst, neben der Dokumentation konkret Politik zu machen und eine Kritik an dem Umgang der Stadt mit 1991 zu formulieren.
MATHIAS: Diese Resonanz von außen war ein wichtiger Punkt, an dem wir gemerkt haben: Okay, das ist immer noch ein wichtiges Thema. Bei den Reaktionen aus der Stadt dachten wir dagegen: Okay, das hätten wir 20 Jahre später nicht mehr erwartet. Das war zum Teil untragbar und schockierend, so dass wir über die Jahrestage hinaus aktiv geblieben sind.
Was waren denn die Reaktionen aus der Stadt?
MARIUS: Wir sind von uns aus zum 20. Jahrestag an die Öffentlichkeit gegangen, weil wir den Eindruck hatten, dass die Ereignisse von 1991 von der Stadt runtergespielt werden. Entweder wurde gar nicht darüber geredet oder es wurde versucht, alles möglichst klein zu halten nach dem Motto: Das, was damals passierte – ohne es genau zu benennen –, war ganz schlimm für die Stadt, aber Gott sei Dank ist das ein abgeschlossenes Kapitel. Warum also noch darüber reden? In dieser Atmosphäre haben wir uns positioniert und gesagt: Für uns war das ein rassistisches Pogrom, das zudem eingeordnet war in einen gesamtdeutschen politischen Kontext, der einerseits große Folgen für Betroffene in verschiedenen Städten hatte, in denen es solche Angriffe gab, und der andererseits mit der faktischen Abschaffung des Asylrechts auf Bundesebene zusammenhängt. Diese Einordnung hat sich natürlich total gerieben mit der Sichtweise in der Stadt. Dementsprechend waren die Reaktionen vor Ort auf uns sehr heftig, wir wurden als „Extremisten“ beschimpft und als „Nestbeschmutzer“.
MATHIAS: Die Sächsische Zeitung hat uns als „fanatische Säuberer und Politikkommissare“ bezeichnet. Motiviert hat uns auch sehr, dass die Betroffenen von 91 überhaupt nicht bedacht wurden. In den Jahren davor sowieso nicht, weil ja über all das überhaupt nicht geredet wurde. Aber auch als wir angefangen haben, mit dem Begriff „rassistisches Pogrom“ zu arbeiten, hat niemand in der Stadt gefragt, was eigentlich mit den Leuten passiert ist, nachdem sie 91 aus der Stadt geschafft wurden. Das einzige Opfer, das man in Hoyerswerda bis heute sieht, ist Hoyerswerda selbst, wegen der schlechten Presse und des schlechten Images. Im Oktober des vergangenen Jahres gab es einen Überfall von Nazis auf ein Paar, bei dem die Polizei zugeschaut hat. Die beiden mussten dann die Stadt verlassen, weil die Polizei sagte, dass sie nicht in der Lage sei, die beiden zu schützen. Als der Bürgermeister zum Jahreswechsel gefragt wurde, was für ihn das schlechteste Ereignis des Jahres war, nannte er die ausschließlich negative Presse im Zuge dieses Überfalls. Er sah allein die Stadt als Opfer. Das sind Prozesse und Reflexe auf rechte Gewalt, die wir seit 1991 kontinuierlich beobachten können und als solche auch kritisieren.
1991 wart ihr ja noch sehr jung. Könnt ihr euch daran erinnern, wie ihr davon erfahren habt, wie in der Stadt, in der Schule oder von euren Eltern darüber geredet wurde?
MATHIAS: Meine Eltern haben mir von den konkreten Ereignissen erzählt, dass wir nach Hause gefahren sind und es sehr viel Polizei gab. Ich war damals 4 Jahre alt, habe davon also nichts mitbekommen. Ansonsten hatte man nur hier und da mal gehört, dass 91 etwas gewesen sei, das schlimm war, und dass Hoyerswerda einen Ruf als Nazi-Stadt hat, auch überregional. In der Schule war das kein Thema. Als wir angefangen haben, die Ereignisse zu dokumentieren, hat man uns in der Bibliothek einen großen Ordner mit Zeitungsartikeln aus einem Archiv hervorgekramt. Es gab in der Stadt nichts, was daran erinnert. Das eine Haus, das angegriffen wurde, ist inzwischen abgerissen, das andere ein normales Wohnhaus.
MARIUS: Ich kann mich da nur anschließen. In der Schule habe ich darüber gar nichts erfahren. In dem Jugendclub, in dem wir uns oft aufhielten und in dem auch ältere Linke waren, die das damals aktiv mitbekommen hatten, da hörte man dann schon immer mal wieder etwas. Aber es war immer wenig konkret. Und gerade diese Form des Umganges hat sicherlich auch im großen Maß dazu beigetragen, dass sich ein regelrechter Mythos um diese Geschehnisse gebildet hat, der sich seitdem beständig hält und von verschiedensten Seiten immer wieder neu unterfüttert wurde.
Wie war der Umgang in der Stadt mit rechter Gewalt?
MARIUS: Hoyerswerda hatte bis zu Beginn der Jahrtausendwende ein massives Naziproblem. Nach den Ereignissen 1991 entstand eine große rechte Jugendkultur, diese Leute sind dann gemeinsam erwachsen geworden. Viele sind natürlich weggegangen, aber viele andere sind geblieben. Die Stadt hat einfach nur versucht, da einen Deckel drauf zu machen. Wir haben das selbst erlebt: Als wir von rechter Gewalt betroffen waren und versuchten, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, sagte man uns, dass man sich damit nicht auseinandersetzen könne, da das alte Wunden aufreißen würde. Man war froh, dass es keine offenen Konflikte mehr gab und es wurde als sinnvoller angesehen, nicht darüber zu reden.
MATHIAS: Zu den Neonazis muss man sagen, dass deren Szene nach 1991 sehr aktiv war. Erst wurden die Ausländer vertrieben, dann Linke und nichtrechte Leute angegriffen. Die Stadt wurde zu einer Art national befreiter Zone. Es gab sehr viel und sehr extreme Gewalt und zwei Morde: Mike Zerna starb, nachdem im Februar 1993 eine Gruppe von Neonazis ihn erst zusammengeschlagen und dann ein Auto auf ihn gekippt hatte. Waltraut Scheffler wurde im Oktober 1992 in Geierswalde bei Hoyerswerda von einem 17-jährigen Nazi erschlagen. Es gibt im Zuge der NSU-Berichterstattung und -Analyse das Schlagwort von der „Generation Hoyerswerda“ durch einen Artikel in der Welt. Da wurde gesagt, dass die Leute, die im NSU aktiv waren, damals gelernt haben, was es heißt, politisch aktiv zu sein. Zudem gab der Staat den Rechten Recht: In Hoyerswerda und in Rostock haben die politisch Verantwortlichen die Flüchtlinge und Vertragsarbeiter aus der Stadt schaffen lassen. Zudem haben sie aus der Bevölkerung großen Zuspruch bekommen, sicher nicht von allen und sicher gab es auch Leute, die sich überhaupt nicht damit beschäftigt haben. Aber in Hoyerswerda standen am Höhepunkt des rassistischen Pogroms 600 Leute vor dem Haus. Das ist natürlich für eine Naziszene ein Signal, aus dem viel Selbstbewusstsein gezogen werden kann. Aber auch später blieben die Rechten sehr aktiv, so wurde zum Beispiel 2006 eine Demonstration organisiert, bei der man sich ganz direkt auf 1991 bezog und von einem „Volksaufstand“ sprach. Auch einer der Kader aus dem Spreelichter-Spektrum – Sebastian Richter – war lange in Hoyerswerda aktiv.
MARIUS: Die rechte Szene der Stadt gehörte 2004 bundesweit zu den Vorreitern bei den Anti-Hartz-IV-Protesten und beteiligte sich auch an den Montagsdemonstrationen. Sozialer Abstieg und Abwanderung waren und sind nach wie vor zentrale Themen in Hoyerswerda. Obwohl diese Art politischen Engagements nachgelassen hat; es gibt bis heute Neonazis in der Stadt, die sehr gewalttätig sind.
MATHIAS: Für den Umgang in der Stadt ist unter anderem problematisch, dass auch bei den aktiven Menschen in Hoyerswerda, die kulturell oder politisch öffentlich in Erscheinung treten, bisher der Konsens vorherrschte, dass man derartige Dinge nicht thematisiert. Zum Beispiel war die Regionale Arbeitsstelle für Ausländerfragen, die in Dresden und Leipzig Opferberatung macht, kein Ansprechpartner für uns, da wir dort nicht auf offene Ohren gestoßen sind. Dann sind, irgendwann nach 2004 war das, Leute aus Görlitz und Dresden gekommen, um sich unsere Geschichte anzuhören und uns zu sagen, was man nach einem Angriff machen kann. Auch im Stadtrat, also in der Politik, gab es kein Entgegenkommen. Und selbst im soziokulturellen Zentrum begegnete man uns immer mit Misstrauen, obwohl dort zum Teil Leute engagiert sind, die Anfang der 90er von Nazis verprügelt wurden.
MARIUS: Stattdessen wurde Stimmung gegen diejenigen gemacht, die sich engagierten, also gegen uns. Die RAA fragte zum Beispiel mal an, ob wir einen Text mit einer Chronik der Ereignisse von 1991 machen könnten. Der Artikel wurde dann mit der Begründung nicht gedruckt, dass er ein schlechtes Image für die Stadt produzieren würde. Als wir selbst das erste Mal an die Öffentlichkeit gingen, bezog man in der Stadt ganz entschieden Stellung gegen uns. Das hat sich erst im Lauf der letzten zwei Jahre geändert, als klar wurde, dass das Thema immer noch eine bundesweite Relevanz hat und man sich da irgendwie verhalten muss. Sie haben zumindest eingesehen, dass es nicht geht, dass man dazu schweigt.
Was hat sich verändert?
MATHIAS: Während 15, 20 Jahre geschwiegen wurde, hat man im Zusammenhang mit der bundesweiten Presse über unsere Demonstrationen begonnen, die damaligen Ereignisse zu relativieren und die rechte Gewalt in der Gegenwart zu entpolitisieren. So sagt man heute: Ja, 1991 war etwas, aber dann hat sich die Stadt zum Positiven verändert. Interessant ist dabei, dass bis auf wenige Ausnahmen selten konkret gesagt wird, was 1991 eigentlich passiert ist. Das wabert vielmehr alles irgendwie herum. Es geht letztlich immer um eine Imagebearbeitung. So gab es zum Beispiel eine Ausstellung zum 20. Jahrestag in der „Orange Box“, die bestand ausschließlich aus Polizeiberichten, die als neutrale Position galten und in der unteren Etage und mit sehr wenig Licht präsentiert wurden. Das obere Stockwerk war dagegen hell ausgeleuchtet. Hier zeigte man Porträts von Menschen mit nichtdeutsch klingenden Namen, die erzählten, wie gut es sich in Hoyerswerda lebt. Sie wurden also für eine städtische Imagebildung instrumentalisiert, eine ehrliche Auseinandersetzung gab es nicht. Die Farce des Ganzen zeigte sich, als im gleichen Jahr drei Betroffene von 1991 noch einmal in Hoyerswerda waren. Vor dem ehemaligen Wohnheim der Vertragsarbeiter/innen wurden sie erneut von Neonazis bedroht und rassistisch beleidigt. Dem begleitenden Kamerateam und einem entschiedenen Auftreten der Drei ist es vermutlich zu verdanken, dass es nicht zu einem gewalttätigen Übergriff kam. Daraufhin gab es ein Interview mit dem Bürgermeister im Deutschlandfunk, in dem er den Männern vorwarf, den Überfall durch ihr Auftreten mit einem Kamerateam provoziert zu haben. Wieder wurden die Täter- und Opferrollen umgekehrt, wieder die rechte Gewalt relativiert. Nicht mal, wenn drei Betroffene vor Ort sind, die der Bürgermeister wenige Minuten vorher persönlich getroffen hatte, war man im Stande, offen und ehrlich mit dem Problem umzugehen.
MARIUS: Die lokale Presse hat im Nachgang die Bürger Hoyerswerdas aufgerufen, zukünftig nett zu Kamerateams und Gästen zu sein, da das ansonsten auf die Stadt zurückfallen würde. Und das könne ja schließlich niemand wollen.
Wie seht ihr den Umgang mit Rechten heute in Hoyerswerda?
MARIUS: Da gibt es Veränderungen, bei denen der genannte Übergriff auf das Pärchen eine große Rolle spielte. Der Sächsische Innenminister sagte nach dem Bekanntwerden öffentlich, dass dies ein Zustand sei, der nicht hinnehmbar ist. Daraufhin wurde die Polizeipräsenz verstärkt, es wurden mehr Streifen gefahren und so weiter. Man versucht, auf der ordnungspolitischen Ebene etwas zu machen. Zum anderen gibt es von zivilgesellschaftlicher Seite aus dem Umfeld der Linkspartei seit zwei Jahren die Tendenz, einige Sachen mehr mitzutragen. Es gab zum Beispiel am 16. April eine Lange Nacht der Toleranz mit ganz verschiedenen Veranstaltungen. Die Linkspartei bezog sich dabei als einzige auf die Ereignisse 1991 und zeigte einen Film, in dem die Betroffenen von damals und ihre Erfahrungen in der Stadt im Zentrum stehen. Bei allen anderen Veranstaltungen fehlte aber wieder jeder Bezug zu 1991 oder zum 20. Todestag von Mike Zerna. Stattdessen gab es zum Beispiel ein Volleyballturnier mit Schülern, das als tolerant galt, weil gesagt wurde, dass es dabei nicht ums gewinnen gehe.
MATHIAS: Das sind Aktivitäten der Aktivität wegen. Die Inhalte, die es gibt, sind instrumentalisiert in dem Sinn, dass sie das Image von Hoyerswerda korrigieren sollen. Zu den wenigen Ausnahmen gehört, dass es im vergangenen Jahr ein Schulprojekt gab, bei dem in Klassen über das, was 1991 passiert war, geredet wurde. Erst mit der bundesweiten Resonanz, die wir mit unserer Kritik ausgelöst haben, und mit der Reaktion des Sächsischen Innenministers auf den Überfall wurde ein Punkt erreicht, an dem Hoyerswerda zum Handeln gedrängt wurde. Wieder war es also nicht die Stadt, die von sich aus gesagt hat: „Das ist eine ganz furchtbare Sache, wir müssen handeln.“