Wahrscheinlich habe ich Dirk* das erste Mal im Gubener Sanikasten getroffen, dem kleinen Klubraum, in dem er zusammen mit Freundinnen und Freunden selbstorganisiert versucht hat, eine alternative Jugendarbeit zu entwickeln. 2006 zog er aus der Stadt weg. Heute ist er angehender Wirtschaftswissenschaftler. Wir trafen uns im Frühjahr 2013 zu einem Gespräch über eine Jugend in Guben und die Erinnerung an den Tod Farid Guendouls.
RE:GUBEN: Wie hast du den 13. Februar 1999 in Erinnerung?
Dirk: Ich kann mich ziemlich gut daran erinnern. Ich war 12 damals. Wir kamen genau am 14. Februar aus dem Urlaub zurück. Wir haben eine Straße vom Tatort entfernt gewohnt, also Luftlinie 200 Meter. Als wir nach Hause gefahren sind, kamen wir an der Hugo-Jentsch-Straße vorbei und haben bemerkt, dass da etwas passiert war. Kurz danach hat uns eine Bekannte besucht, um uns nach dem Urlaub zu begrüßen. Als erstes hat sie erzählt, was geschehen ist.
Ich glaube, für mich war es damals schwierig, das alles zu begreifen, auch das Ausmaß. Als 12-Jähriger habe ich wahrgenommen, dass jemand umgekommen ist, weil er Asylbewerber war, wie es hieß. Ich weiß, dass meine Eltern sehr schockiert waren. Es hat dann ja auch einen Einfluss, wie die Personen um einen herum reagieren. Man begreift es so wahrscheinlich anders, als wenn man es nur irgendwie hört.
Wurde die Tat damals auch bei dir in der Schule thematisiert?
Ja, es wurde bei uns in der Klasse angesprochen. Wir hatten eine Stunde in einem Gesellschaftsfach – ich glaube, Politische Bildung hieß es damals noch nicht –, da haben wir jedenfalls eine Stunde oder sogar eine Doppelstunde darüber geredet. Kurze Zeit nach der Tat. Ich habe nicht mehr so viel Erinnerung daran, was genau gesprochen wurde, ich weiß nur noch, dass es thematisiert wurde. Ich glaube aber auch, dass es wirklich schwer war für uns, in unserem Alter, das ganze Ausmaß, die Hintergründe, warum es passiert ist, zu begreifen. Der Versuch war auf jeden Fall da, das Thema anzusprechen. Ich weiß allerdings nicht, ob es auch in anderen Klassen oder nur von unserer Klassenlehrerin gemacht wurde.
Du hast dann auch die nächsten Jahre in der Obersprucke gelebt. Hast du zu der Zeit dort Nazis wahrgenommen?
Das kam dann recht schnell, im Sommer danach. Ich wurde 13, hab auf der Skaterbahn rumgehangen und war so ein bisschen Hip-Hopper. Das war das Jahr, in dem ich das erste Mal von Nazis bedroht und auch körperlich attackiert wurde. Dann fängt man an, sich damit zu beschäftigen. Man wusste ja, warum man angegriffen wurde – wurde einem ja sehr deutlich gesagt…
Warum?
Weil ich nicht „deutsch“ aussah. Da fängt man an, darüber nachzudenken, und versucht, das für sich zu begreifen. Damit fing für mich eine Politisierung an. Ich konnte dann auch den Tod von Farid Guendoul einordnen, weil es für mich Stück für Stück begreifbar wurde, was da passiert ist. Ich hab angefangen, mir Gedanken zu machen, was um mich herum los ist.
Die Skaterbahn war damals nicht weit weg von dem Tatort – dort hat sich alles getroffen, was ein bisschen gerollt hat und vielleicht ein bisschen alternativ war. Dort hatten wir immer wieder Stress, weil bis auf diese kleine Skaterbahn in der Sprucke damals mehr oder weniger Nazis das Gebiet dominierten. Zu der Zeit habe ich begonnen, das wahrzunehmen.
Was meinst du mit Politisierung?
Das kam wirklich Stück für Stück. Es hat mit dieser Skaterzeit angefangen. Das hatte natürlich viel mit Lifestyle zu tun, man war ein bisschen Hip-Hoper und so. Deswegen war man – unabhängig vom „nicht deutschen“ Aussehen – automatisch Zielscheibe für Nazis. Es war sehr selten, dass man in einer Woche mal keinen Stress mit ihnen hatte. Das war nicht immer körperlich, einfach verbal, so dass man da Sprüche zu hören bekam. Diese Fronten waren relativ schnell klar. Man wusste, was Nazis sind, was die wollen, warum die so sind. Und ich habe angefangen, mich selber zu fragen: Was will ich und was find ich an Nazis nicht cool. So hat sich ein Denkprozess entwickelt.
Ich habe nach Alternativen gesucht und habe dann den Sanikasten entdeckt, der damals aufgemacht hatte. Ich bin dann mit ein, zwei Leuten von oben, also von meinen Freunden, relativ oft dorthin gegangen, weil wir uns dort einfach wohlgefühlt haben, weil es ein Rückzugsort war. Wir wussten: Okay, hier brauchen wir nicht Angst haben, dass wir auf die Schnauze bekommen oder Stress haben. Das war der Weg dorthin.
Wie hat sich die Situation für dich in den Jahren danach entwickelt?
Wenn man relativ viel in der Stadt unterwegs war, hatte man oft Auseinandersetzungen, auf Partys zum Beispiel. Es war Teil von dem ganz normalen Wahnsinn in Guben, dass – egal zu welchem Stadtfest oder Dorffest oder Osterfeuer man gegangen ist – es eigentlich immer Stress gab. Das gehörte einfach zum Alltag dazu. Bis dahin, dass selbst am Badesee oder so Leute ankamen und Stress suchten. Das ist für mich später vom Umfang her dadurch zurück gegangen, dass wir einen Rückzugsraum hatten, dass wir fast „stationär“ im Sanikasten waren, weil wir einfach keine Lust mehr auf den permanenten Stress hatten.
Ich glaube, dass sich die Situation an und für sich in Guben nicht geändert hatte. Für mich persönlich hat nur die Quantität abgenommen. Wenn dann aber was passiert ist, hat sich nach meinem Gefühl die „Qualität“ der Übergriffe enorm gesteigert. Früher waren es auch Angriffe klar aus einem politischen Grund, weil man nicht in deren Weltbild gepasst hat, aber das endete meist dann, wenn das Opfer geblutet hat oder wenn für die Angreifer erkennbar war, dass sie sich als die „Stärkeren“ durchgesetzt hatten – oder dass sie es nicht schaffen. Später ging es ihnen nach meinem Eindruck darum, den politischen Feind zu bekämpfen. Das war dann gezielt, um die größtmöglichen Schäden bei uns anzurichten.
Ich bin nach meinem Abitur mit 19 aus Guben weggegangen, sofort 2006. Der Überfall beim Stadtfest in dem Jahr war für mich der Abschluss. Das war nochmal so ein Punkt, der alles verdeutlicht hat, was ich vorher in Guben erlebt hatte, mit allem drumherum, angefangen bei dem Übergriff selbst bis hin zur Wahrnehmung in der Stadt und den Reaktionen der Öffentlichkeit, der Polizei und auch der Justiz. Es ist mir noch einmal vor Augen geführt worden, warum ich, seitdem ich denken konnte, wusste, dass ich aus Guben weg muss. Weil da kein Platz ist für einen selber.
Hast du denn Reaktionen in der Stadt erlebt, die für dich positiv waren?
Für mich war der Sanikasten ein ziemlich wichtiges Projekt in Guben, weil es das einzige war, in dem Jugendliche selbständig und selbstverantwortlich für eine alternative Jugendkultur, für eine nicht diskriminierende Jugendkultur eingestanden haben. Aber es war eigentlich so, dass wir immer mehr mit den Behörden zu kämpfen hatten, als dass wir Unterstützung erfahren haben. Wir haben halt nicht reingepasst in ihre Jugendförderung.
Damit will ich nicht sagen, dass in der Stadt keiner das Projekt unterstützt hat. Da gab es durchaus auch in den Behörden einzelne Leute, die uns gegenüber sehr nett und sehr kooperativ waren. Es gab natürlich Leute in der Stadt, die uns geholfen und uns unterstützt haben, in der Vereinsarbeit oder in verschiedenen Projekten, die wir gemacht haben. Aber es war nie so, dass ich wirklich das Gefühl hatte, dass die Stadt, also die Politik und die Verwaltung insgesamt, uns hilft und hinter dem Projekt steht. Von der Stadtspitze, gerade später unter Herrn Hübner, hatte man nie den Eindruck, dass es gewollt ist.
Warum bist du aus Guben weggegangen?
Es lässt sich mit einem Wort sagen: Lebensqualität. Ich glaube, das war mit der erste Gedanke in meiner Entwicklung, mit 14, 15, als ich begriffen habe, was in der Stadt los ist: Ich muss hier so schnell wie möglich weg. Es war so, man macht die Schule fertig und dann sieht man zu, dass man irgendwo Anschluss findet, nur raus aus dieser Stadt. Es war absehbar, dass es da keine Zukunft gibt, die einem in irgendeiner Weise schön vorkommt.
Bist du jetzt manchmal noch da?
Sehr selten. Ich versuche auch, es möglichst zu vermeiden. Ich habe in Guben nur noch sehr wenige Freunde von früher, der Großteil ist auch weggezogen. Ich lade lieber die wenigen, die noch vor Ort sind, in schöne Städte ein, wo man auch Zeit verbringen kann. Dort in Guben zu sein, brauche ich nicht unbedingt. Ich fühle mich auch nicht verbunden mit dem Ort, schon gar nicht sehe ich ihn als Heimat. Meine romantischen Gefühle für Guben halten sich sehr in Grenzen. Ich habe natürlich auch positive Erinnerungen an schöne Zeiten. Aber es ist so, dass sie nicht auf dem Ort beruhen, sondern auf dem, was wir selber alles gemacht haben. Sie hängen an den Leuten, mit denen ich zusammen war, und nicht an der Stadt, an dem Umfeld vor Ort.
Wie hast du in der Zeit in Guben den Umgang mit dem Tod von Farid Guendoul wahrgenommen?
Wie gesagt, ich war 1999 noch relativ jung. Da war es schwierig, das alles einzuschätzen. Das kam dann erst später. Aber es war auch immer wieder ein Thema, zum Beispiel unter Schülern, Jugendlichen. In der Art, dass fünf Jahre später noch Sachen kamen wie „Scheibenspringer“ oder „Der ist doch selber schuld“. Das war mehr oder weniger Alltag. Es war halt für einen Großteil der Leute so, dass die Schuldfrage gar nicht geklärt wäre und dass es eigentlich gar nicht so schlimm gewesen wäre, wenn der da nicht durch die Scheibe gesprungen wäre. Ich habe bei etlichen Gleichaltrigen eine Verharmlosung wahrgenommen, die eigentlich nur daher kommen konnte, dass sie das seit der Tat in ihrem Umfeld aufgenommen und sich kaum damit auseinandergesetzt haben. Sie haben diese Perspektiven übernommen und dann war das halt so.
Später waren wir aus dem Sanikasten auch selbst aktiv für ein Gedenken und haben versucht, die Tat wieder in den Blick zu nehmen. Und wir haben gemerkt, dass es von vielen nicht gewollt war. Die üblichen Reaktionen waren, dass es schon so lange her ist, dass schon so viel dazu getan wurde, dass es ja mal reicht, dass jeden Tag Menschen sterben. Es sei ja genug, weil es einen Gedenkstein gebe, und nun solle man die Leute einfach in Ruhe lassen. Ich denke, ein Großteil in Guben wollte nichts mehr damit zu tun haben.
Wir haben aus politischen und menschlichen Gründen erinnert. Aber meine Illusion, da eine gesellschaftliche Diskussion zu schaffen, die sich kritisch auseinandersetzt und reflektiert, hat sich schnell gegeben, als ich gemerkt habe, dass da eigentlich nichts passiert. Ich vermute ganz stark, dass es heute nicht viel anders ist, dass die gleichen Argumente kommen. Es wird auch heute in Guben eine Handvoll Leute geben, die eine Erinnerung an Farid Guendoul und an die Tat grundsätzlich begrüßenswert finden und dort auf ihre Weise gedenken, aber ich glaube, im Großen und Ganzen wird es die gleiche Reaktion hervorrufen wie vor fünf Jahren – nur mit dem Tenor, dass es jetzt noch länger her ist.
* Der Name wurde von der Redaktion geändert.
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